Grünberg – Weinberg – de Vries (RZ vom 23.10.2017)

Der Künstler Gunter Demnig aus Frechen bei Köln verlegte am Samstag zunächst fünf »Stolpersteine« im Bürgersteig vor
der Kommerzienrat-Hesse-Straße 7 (Bild) und danach acht Gedenksteine vor der »Grillecke« in der Westerstraße 41.

»Stolperstein«-Aktion in Weener: »Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist«

Gedenktafeln aus Messing in den Bürgersteigen vor dem Imbiss in der Kommerzienrat-Hesse-Straße 7 und vor der »Grillecke« in der Westerstraße 41 erinnern nun an die letzten frei gewählten Wohnorte jüdischer Holocaust-Opfer.

Von Holger Szyska
WEENER. »Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist« zitiert Gunter Demnig den Talmud, eines der bedeutendsten Schriftwerke des Judentums. Dieser Satz ist für den Künstler aus Frechen bei Köln der Antrieb, mit »Stolpersteinen« vor den Häusern die Erinnerung an die Menschen, die einst hier wohnten, lebendig werden zu lassen. Zu den mehr als 1000 Orten in 20 europäischen Ländern, in denen Demnig bereits aktiv war, gehört seit einem Jahr auch Weener. Vor der Buchhandlung Klinkenborg in der Neuen Straße 13, wo früher die jüdische Familie van der Zyl zuhause war, liegen seither sieben »Stolpersteine«. Am Samstag hat sich die Zahl der Gedenktafeln aus Messing auf 20 erhöht, fünf erinnern in der Kommerzienrat-Hesse-Straße an die Familien Grünberg und Weinberg, acht in der Westerstraße an die Familie de Vries.

Dass die Aktion mit rund 50 Teilnehmern einen würdevollen Rahmen bekam, lag nicht zuletzt an der Arbeitsgemeinschaft »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« der Oberschule Weener. Angelina Krawietz, Ulrike Ahlers, Teiko Jürgens, Maren Giese und Julia Leibhahn sowie Joana Ulpts und Anna Fischer, die inzwischen zur Berufsschule nach Leer gehen, befassten sich mit Unterstützung ihrer Lehrerin Sabrina Koetsier mit dem Schicksal der Familien Grünberg und Weinberg. Ein Besuch der Gedenkstätte Esterwegen und Recherchen im Archiv der Rheiderland Zeitung gehörten ebenso dazu wie ein Treffen mit dem Zeitzeugen Albrecht Weinberg aus Leer. »Es war eine Ehre für uns«, sagte Koetsier am Samstag im Beisein des 92-jährigen Holocaust-Überlebenden, der aus Rhauderfehn stammt und in seiner Kindheit oft in Weener war. In der Kommerzienrat-Hesse-Straße (damals Neue Straße) lebten Angehörige seiner Mutter: zwei seiner Onkel, seine Tante, seine Cousine und seine Nichte. Abraham und Frauke Grünberg waren 1896 aus Jemgum nach Weener gezogen, wo sie mit ihren ältesten Söhnen Hermann und Aron einen Schrott- und Fellhandel gründeten. Die »Stolpersteine« erinnern an Grünberg-Tochter Rahel, ihren Mann Bernhard Weinberg, ihre gemeinsame Tochter Lilli, ihre Enkelin Rosel und den Grünberg-Sohn Max. »Zu jüdischen Feiertagen wie an Ostern und Neujahr fuhren wir meistens zu den Onkeln und Tanten nach Weener«, berichtete Albrecht Weinberg der RZ. Dabei spielte er als Kind oft mit Hilde, Willi und Jürgen, deren Eltern Moritz und Sophie de Vries eine Schlachterei in der Westerstraße betrieben. »Sie waren in meinem Alter«, so Weinberg. Wie Moritz de Vries wanderte er nach der Befreiung vom Nazi-Regime in die USA aus. »Ich habe ihn in seinem kleinen Fleischerladen in New York getroffen und war auch auf seiner Beerdigung in Florida«, berichtete der 92-Jährige. Als nun für Abraham, Mathilde, Moritz, Daniel, Sophie, Hilde, Wilhelm und Jürgen de Vries vor der Hausnummer 41 acht »Stolpersteine« verlegt wurden, sprach Albrecht Weinberg – wie zuvor bereits in der Kommerzienrat-Hesse-Straße – ein Kaddisch für sie. Das ist eines der wichtigsten Gebete im Judentum.

Die Oberschüler (von links) Angelina Krawietz, Ulrike Ahlers, Teiko Jürgens, Maren Giese und Julia Leibhahn sowie die Berufschülerinnen Joana Ulpts und Anna
Fischer befassten sich mit Unterstützung von Lehrerin Sabrina Koetsier mit der Geschichte der jüdischen Familien Weinberg und Grünberg. Der HolocaustÜberlebende
Albrecht Weinberg hatte die Schülergruppe besucht und traf sie am Samstag bei der Verlegung von »Stolpersteinen« wieder.

Dass es dazu kam, ist dem verstorbenen Fritz Wessels zu verdanken. Denn auf dessen Initiative geht die Verlegung der »Stolpersteine« zurück, wie Bürgermeister Ludwig Sonnenberg anmerkte. Das Stadtoberhaupt dankte auch den Mitgliedern des Arbeitskreises, die sich in Wessels’ Sinne weiter dafür einsetzen: Karin Mittwollen, Birgit Rutenberg, Gisela Ritz, Anny Kaufmann und Gerda Pruin. Die engagierten Frauen wollen noch weitere »Stolpersteine« ermöglichen. Denn es gibt noch zahlreiche Menschen, die nicht vergessen werden sollen: 1933 lebten 131 jüdische Einwohner in Weener, nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 waren es nur noch 42, ab April 1940 gab es gar keine jüdischen Bürger mehr in der Stadt. Einige konnten fliehen, doch viele von ihnen wurden von den Nationalsozialisten umgebracht.
Broschüren mit den Biografien der Familien Grünberg, Weinberg und de Vries gibt es in der Buchhandlung Klinkenborg in Weener. Dort steht auch eine Spendendose, um weitere »Stolpersteine« zu finanzieren.

Quelle: Rheiderlandzeitung vom 23.10.2017 (https://rheiderland.de/)